Hochbegabung und Gesellschaft

Ein Bericht von Eckhard Freuwört


Bin ich hochbegabt? Ich gehöre weder der Mensa noch HighIq oder einem ähnlichen Verein an. Ich habe jedoch im Rahmen einer Forschungsgruppe mit einer ganzen Reihe nachweislich hochbegabter Personen zu tun (mindestens jeder Dritte ist Mensaner) und im allgemeinen keinerlei Probleme, da intellektuell mitzuhalten - was ich allerdings hasse, ist elitäres Gehabe. Im Jahr 1976 musste ich als einer von knapp 80 Probanden anlässlich der Musterung bei der Bundeswehr an einem Intelligenztest Eysenck´scher Prägung teilnehmen. Ich kann solche Tests nicht ausstehen - erfassen sie doch niemals das gesamte Fähigkeitenspektrum, sondern vielmehr immer nur Teilbereiche wie logisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen oder sprachliche Fähigkeiten. Kreativität hingegen nie. Und wie objektiv kann eigentlich ein Test sein, der immer nur einen relativen Vergleich darüber erlaubt, was in diesem einen Test, zu diesem einen Zeitpunkt, mit genau dieser Probandenzusammensetzung, mit genau dieser Aufgabenstellung und unter exakt diesen Bedingungen für Leistungen erbracht worden sind? Drei der Teilnehmer - ich gehörte mit dazu - wurden zu einem zweiten Test abkommandiert. Dieser zweite Test sollte Auskunft über Hochbegabung geben. Die BW-Psychologen erklärten mir später, ich verfüge über einen IQ von 143, sei folglich hochbegabt. Schön, da fühlt man sich im ersten Moment doch geschmeichelt. Aber nach kurzem Überlegen drängte sich mir die Frage nach dem "was nützt´s" auf. Und darauf konnte mir von denen damals keiner eine Antwort geben. Inzwischen aber kann ich mir die Frage selbst beantworten. Oder anders formuliert: "Wie mag sich ein Alien fühlen, daß die Rolle eines Eingeborenen auf einem kleinen blauen, übervölkerten Planeten in einem völlig aus der Mode gekommenen westlichen Seitenarm der Galaxis angenommen hat?". Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder äusserte einmal: "Unter sozialen Randschichten kann man auch die Intelligenz verstehen". Dem kann ich mich nur anschliessen. Hier ist meine Geschichte.

Geboren wurde ich vor 46 Jahren in einem zurückgebliebenen Kuhdorf in Norddeutschland als Sohn eines Hilfsarbeiters beim Abdecker. Da das in der sozialen Hackordnung noch unter dem Totengräber stand, wuchs ich "in der Gosse" auf - ohne Informations- oder Förderungsmöglichkeiten. Stattdessen "Revierkämpfe", wobei ich wohl noch am ehestens als "nützlicher Idiot" galt. Es gab zwar einige Kinder, mit denen ich spielte, aber richtige Freundschaften waren das nie. Dazu lagen die Interessen zu weit auseinander, war ich irgendwie "zu anders". Mit drei Jahren kam ich in den Kindergarten. Mit vier konnte ich lesen. Mit fünf wurde ich eingeschult. Die dritte Klasse übersprang ich. Ab der fünften Klasse ging ich auf´s Gymnasium - was auf die Intervention meiner bisherigen Lehrer zurückzuführen war. Meinen Eltern ging das gegen den Strich, denn sowas gehörte sich nicht für jemanden mit meiner Herkunft. Auf dem Gymnasium war ich sprachlich durchweg besser als naturwissenschaftlich. Aber Sprachen interessierten mich nicht. Ergo ließ ich das schleifen und befasste mich mit Naturwissenschaft - allerdings mit Fachbüchern aus der Oberstufe oder aus der Bibliothek, nicht jedoch mit dem aktuellen Schulstoff. Der langweilte mich nämlich unendlich, was mir auch prompt zwei "Ehrenrunden" einbrachte. Mit den Worten "wozu brauchst Du Abitur" nahmen mich meine Eltern nach der mittleren Reife von der Schule. Da ich noch nicht volljährig war, konnte ich nichts dagegen machen.

In Folge erlernte ich rein interessehalber fünf technische Berufe, alle mit Abschluß. Zum Schluss lief das so, daß ich im einen Beruf schon arbeitete, während ich in Abend- und Wochenendschule in zwei weiteren ausgebildet wurde. Ein Studium hätte mich zwar gereizt, war aber sowieso illusorisch - ohne Abitur, Geld und Unterstützung. Wie reagiert die Gesellschaft auf so etwas? Das Establishment empfindet Hochbegabung als ein Privileg, insbesondere dann, wenn die Hochbegabung den "gehobenen" sozialen Schichten entspringt. Dann wird die Hochbegabung mitunter sogar stillschweigend vorausgesetzt - auch wenn sie real fehlt. Ihre Förderung ist dennoch obligatorisch. In den unteren Schichten der sozialen Hackordnung sieht es gänzlich anders aus. Die Gesellschaft hängt hier der Doktrin "Was Hans nicht lernt, lernt Hänschen nimmermehr" an. Es gibt für Hochbegabte auf dieser Ebene nur zwei Möglichkeiten: Versteckspiel (Anpassung), weil Anderssein nie (!) akzeptiert wird. Oder aber soziale Ausgrenzung nebst aller damit verbundenen Nachteile - bis hin zur Kriminalisierung aufgrund von emotionalen Abläufen hoher Intensität und Unkonventionalität im rationalen Verhalten. Besonders betroffen sind Kinder, denn die Schule hilft hier nicht weiter. Im Gegenteil: Kreativität stört im (Fliessband-) Unterricht und Empfehlungen für weiterführende Schulen orientieren sich aufgrund der gesellschaftlichen Indoktrinierung immer und praktisch ausschliesslich an der sozialen Herkunft - ungeachtet der individuellen Fähigkeiten! Die betreffende Selektion fördert vorwiegend das Mittelmaß, wie durch verschiedene und voneinander unanhängige Studien (PISA, Euro Student 2000 u. a.) erst in jüngster Zeit wieder bestätigt worden ist. Dieses (ungeeignete) System ist schon seit Jahrhunderten fest eingefahren! Der frz. Schriftsteller François Duc de La Rochefoucauld (1613–1680) kommentierte das so: "Mittelmäßige Geister verurteilen gewöhnlich alles, was über ihren Horizont geht." Mir selbst erging es kein bisschen anders.

Die Folge war das Versteckspiel. Doch das ist durchaus ein sehr zweischneidiges Schwert. Natürlich kann man sich ein gutes Buch nehmen, anstatt sich vom allgegenwärtigen Berieselungskanal das Kleinhirn wegspülen zu lassen. Legt man solche Verhaltensweisen jedoch häufiger an den Tag, dann wird man schon seltsam angesehen - selbst im engsten Familienkreis. Vor allem ist es dann bspw. auf der Arbeitsstelle nicht möglich, zwecks Vortäuschung von Anpassung mitreden zu können. Dort ist es ohnehin notwendig, sich auf einem Niveau zu bewegen, welches nicht das eigene ist, damit man akzeptiert wird. Langweilt man sich aber im Rahmen der öden Routinearbeiten oder aber der normalen Unterhaltungs-Zumutung oder verbleibt man zu lange auf dem eigentlich individuell ungeeigneten Niveau, dann besteht vielleicht nicht gerade die Gefahr, zu verblöden, aber im günstigsten Fall verfällt man der Stagnation. Sowas kann ernsthaft krank machen - doch die Gratwanderung dazwischen ist um keinen Deut besser! Gratwanderung bedeutet nämlich, sich nur gerade mal soviel anzupassen, wie nötig ist, um noch nicht ausgegrenzt zu werden. Damit das aber funktioniert, ist permanente Wachsamkeit erforderlich - und (psychische) Kraft, die sich anderweitig sehr viel nützlicher einsetzen liesse!

Auch gelten Hochbegabte, welche aus den o. e. Gründen zum Versteckspiel gezwungen sind, bei ihren "lieben Mitmenschen" schnell als sonderbar, schroff oder gar unheimlich - warum wohl? Ist es ein Zeichen von Hochbegabung, wenn man Selbstverständlichkeiten von vornherein in seine Überlegungen miteinbezieht und gar keiner besonderen Erwähnung würdigt? Beispielweise die Bezugstemperatur bei Messungen, den Biorhythmus bei Geschäftsterminen, die tageszeitabhängige Leistungskurve bei Besprechungen und hochkonzentriert zu leistenden Arbeiten, die für bestimmte Resultate erforderlichen Prämissen usw. Sehr viele und nicht hochbegabte Leute halten aber gerade das, gerade diese Selbstverständlichkeiten für "Hintergedanken". Hintergedanken werden nach verbreitetem Vorurteil nur allzuoft mit "Falschheit" gleichgesetzt. In Folge geschieht etwas, was wohl jeder Hochbegabte schon am eigenen Leib verspüren durfte: Er wird nicht verstanden und als "launisch", "unheimlich", "sprunghaft" oder als "Geheimnistuer" abgelehnt. Um wieviel besser aber könnte alles laufen, wenn man auf die rein schon seitens der Biologie auferlegten Sachzwänge Rücksicht nähme? Ein Hochbegabter würde bestimmt keinen Gedanken daran verschwenden, so etwas Hirnrissiges wie den Termin für eine wichtige Geschäftsbesprechung um fünfzehn Uhr nachmittags anzuberaumen. Aber so etwas darf ja in Gegenwart von weniger verständigen Mitmenschen nicht mal laut gedacht werden...

Nun könnte man versuchen, getreu Wilmar H. Shiras Klassiker "Children of the atom" aus dem Jahre 1953 (einem Roman, der Hochbegabten sehr gut auch als Verhaltenslehrbuch dienen kann) durch Kompensation einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden - doch auch hier scheitert man am System! Ich habe das selbst vor einigen Jahren erfahren müssen, als ich noch Aufsätze für renommierte Fachzeitschriften anfertigte (Chemie in Labor und Biotechnik, Chip...), was meine ganz individuelle Art von Ausgleich darstellte. Diesen Aufsätzen (sie handelten von Chemie, Online-Meßtechnik, fraktaler Mathematik, EDV usw.) wurde - schriftlich und mehrfach! - ein sehr hohes Niveau bescheinigt und mir selbst ein hohes Maß an Kreativität. Schön. Ich war zuvor um diese Aufsätze gebeten worden. In den darauf folgenden Leserbriefen wurde ich mit allen möglichen akademischen Titeln angesprochen; das reichte vom Ing. bis zum Prof. Ich machte mir die Mühe, die Leute dahingehend zu korrigieren, daß ich nur ein dummer kleiner Sachbearbeiter ohne Titel bin. Nachdem das bekannt geworden war, musste ich förmlich um die Möglichkeit zur Publikation betteln - ungeachtet der Aufsatzinhalte, denen weiterhin das gleiche sehr hohe Niveau bescheinigt wurde. Denn so ein Verhalten für einen Nicht-Akademiker gehört sich doch einfach nicht!

Gut, dann lässt man das bleiben und taucht wieder unter. Der Hunger nach "geistiger Nahrung" bleibt jedoch. Er wird nicht gestillt (kann gar nicht gestillt werden!). Denn auch hier verhindert das Establishment wirksame Veränderungen: Gute Bibliotheken finden sich nur in den grösseren Städten. Wer dort wohnt, hat Möglichkeiten. Auf dem Land gibt es diese Möglichkeiten nicht. Stadtwohnungen sind aber teuer - schon allein aus finanziellen Erwägungen heraus kann nicht jeder in die Stadt ziehen (auf dem Land lebt sich´s auch ruhiger!). Es bliebe noch die Möglichkeit, Bücher zu kaufen. Doch Bücher sind kostspielig und wer nicht viel Geld hat, der denkt zuerst an seine Familie, an seinen fahrbaren Untersatz und an sein Dach über dem Kopf - also auch hier: finanzielle Einschränkungen; Sachzwänge, welche sehr wirkungsvoll verhindern, daß der Hunger nach "geistiger Nahrung" gestillt wird. Die untere Ebene der sozialen Hierarchie kann daher nicht verlassen werden - auch nicht vom eigenen, u. U. gleichfalls hochbegabten Nachwuchs. Und selbst zu einem adäquaten Job zu kommen, um in der sozialen Hackordnung weiter aufsteigen zu können, ist praktisch unmöglich - egal, wie gute Leistungen einem auch bescheinigt worden sind. Denn die Bundesagentur für Arbeit betrachtet ohne Titel immer nur einen Job. Mehrere Berufe führen zur Einstufung "überqualifiziert". Diese Einstufung aber bedeutet auch "schwer vermittelbar" oder "langzeitarbeitslos". Also nimmt man - gezwungenermaßen! - den erstbesten Job an, in intellektueller Hinsicht unter Niveau. Die Folge: Spaß macht es nicht gerade, wenn einem die anderen geistig nicht folgen können. Irgendwann fragt man sich dann unwillkürlich, ob Hochbegabung nicht vielleicht eine Art von Behinderung ist...

Eckhard Freuwört (im Falle einer Kontaktaufnahme bitte das Formular aufmeiner HP unter http://berg.heim.at/anden/420928/ benutzen)